Immer wieder werden wir in unseren Vorträgen und Gesprächen gefragt, woher die Zahl von 15–20 % neurodivergenter Menschen stammt. Hier erklären wir, wie sich dieser Wert aus verschiedenen internationalen Studien ergibt und welche wissenschaftlichen Quellen wir dafür heranziehen.
Was umfasst Neurodivergenz?
Der Begriff Neurodivergenz beschreibt neurologische Unterschiede in Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und Denken. Meist sind damit Entwicklungsvarianten gemeint, die seit der Kindheit bestehen. Dazu zählen unter anderem:
- Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)
- Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
- Lernstörungen: Dyslexie (Lese-/Rechtschreibstörung), Dyskalkulie (Rechenstörung)
- Tic-Störungen (z. B. Tourette-Syndrom)
- Dyspraxie (Entwicklungskoordinationsstörung)
- Synästhesie (Verknüpfung von Sinnenswahrnehmungen)
- Hochbegabung
- Hochsensibilität (diskutierte Kategorie)
Zusätzlich gibt es psychische oder chronische Erkrankungen, die neurobiologische Besonderheiten aufweisen und mit neurodivergenten Profilen überlappen können:
- Migräne
- Depression
- Angststörungen
- Zwangsstörungen
- komplexe Traumafolgestörungen
Diese Gruppen werden jedoch nicht immer automatisch unter den klassischen Begriff „neurodivergent“ gefasst, sondern stehen oft im erweiterten Kontext neurobiologischer Diversität.
Darüber hinaus gibt es neurologische und genetische Erkrankungen, die ebenfalls neurodivergente Merkmale beinhalten können, auch wenn die Grunderkrankung selbst nicht primär unter den Begriff Neurodivergenz fällt:
- Trisomie 21 (Down-Syndrom)
- Angelman-Syndrom
- Rett-Syndrom
- Fragiles-X-Syndrom
- Neurofibromatose
- Tuberöse Sklerose
- Schlaganfälle mit neurologischen Folgesymptomen
- Multiple Sklerose
- Epilepsien
- Bipolare Störung
- u. v. a.
Auch hier können neurodivergente Symptome wie Auffälligkeiten in Wahrnehmung, Informationsverarbeitung, Reizfilterung, Kommunikation, motorischer Steuerung oder sozialer Interaktion auftreten.
Grobe Prävalenzschätzungen – klassische Neurodivergenz
(Basis der 15-20 % – Schätzung)
Bereich | Prävalenz (grob) |
ADS / ADHS | 5-7 % (Kinder), 2-5 % (Erwachsene) |
Autismus-Spektrum-Störung (ASS) | 1 bis 2 % |
Dyslexie (Lese-Rechtschreibstörung) | 5-10 % |
Dyskalkulie | 3-6 % |
Tic-Störungen (inkl. Tourette-Syndrom) | 1-3 % |
Dyspraxie | 5-6 % |
Synästhesie | 2-4 % |
Hochbegabung (IQ ≥ 130) | 2-3 % |
WICHTIG: Die Zahlen der prozentualen Betroffenheit (Prävalenz) können NICHT einfach addiert werden, da es häufig zu sogenannten Komorbiditäten (Mehrfachdiagnosen) kommt.
Erweiterte neurobiologische und psychische Varianten (nicht Teil der 15–20 % – Schätzung, aber oft komorbid oder verwandte neurobiologische Besonderheiten)
Bereich | Prävalenz (grob) |
Hochsensibilität | Keine klar definierte Prävalenz, Schätzungen bis circa 15-20 % |
Migräne | 10-15% |
Depression | 8-12 % |
Angststörungen | 10-15 % |
Genetische Syndrome mit neurologischen Auffälligkeiten (z. B. Trisomie 21, Angelman-Syndrom, Rett-Syndrom) | sehr variabel |
WICHTIG: Die Zahlen der prozentualen Betroffenheit (Prävalenz) können NICHT einfach addiert werden, da es häufig zu sogenannten Komorbiditäten (Mehrfachdiagnosen) kommt.
Warum kann man die Zahlen nicht einfach addieren (ausführliche Erläuterung)?
Würde man alle diese Prozentsätze addieren, käme man auf weit über 50 % der Bevölkerung.
Aber: Viele Menschen gehören gleichzeitig zu mehreren dieser Gruppen. Zum Beispiel:
- Viele Autist*innen haben auch ADHS.
- Lernstörungen treten häufig gemeinsam mit ADHS, Autismus oder Tic-Störungen auf.
- Migräne, Depression und Angststörungen kommen häufig zusätzlich bei neurodivergenten Entwicklungsprofilen vor.
- Genetische Syndrome wie Trisomie 21 können multiple neurodivergente Symptome gleichzeitig beinhalten.
Man spricht hier von sogenannten Komorbiditäten (Mehrfachbetroffenheit).
Eine anschauliche Metapher dazu:
Man kann die einzelnen Diagnosen nicht einfach zusammenzählen wie Bauklötze, weil viele Menschen mehrere dieser Merkmale gleichzeitig haben. Es ist wie bei einer Schule: Einige Kinder singen im Chor, spielen Fußball und sind in der Theatergruppe. Wenn man die Teilnehmerzahlen der einzelnen Gruppen einfach zusammenrechnet, hat man am Ende mehr als 100 % der Kinder gezählt.
Was bedeutet das für die Gesamtzahl?
Internationale Übersichtsarbeiten, die diese Überschneidungen berücksichtigen, kommen daher auf eine kombinierte Schätzung von ca. 15–20 % neurodivergenter Menschen in der Gesamtbevölkerung (im engeren neuroentwicklungsbezogenen Sinn).
Je nach Definition und Erweiterung — etwa durch Einbeziehung chronischer neurologischer Erkrankungen, genetischer Syndrome und psychischer Begleiterkrankungen — könnten die tatsächlichen Anteile noch deutlich höher liegen.
Quellen:
- Louison et al. (2021): Prevalence of neurodevelopmental disorders in the general population: an umbrella review, Journal of Neurodevelopmental Disorders.
- Doyle & McDowall (2021): Neurodiversity at Work: a biopsychosocial model and the impact on working adults, British Journal of Guidance & Counselling.
- NICE Guidelines (UK): Leitlinien zu Autismus, ADHS, Lern- und Entwicklungsstörungen.
- Neurodiversity Hub (2023): Global overview on prevalence rates.